Der ägyptische Jesuit P. Samir Khalil Samir beklagt die zunehmende Radikalisierung durch Salafisten, Muslimbrüder und Wahabiten

P. Samir Khalil Samir SJ  (© Pia de Simony, CSI-Austria)Rom – Der ägyptische Jesuit P. Samir Khalil Samir, einer der führenden Islamberater des Vatikans, sieht die islamische Welt derzeit in der schlimmsten Phase ihrer Geschichte. Es gebe in der gesamten islamischen Welt eine Atmosphäre, die sich zunehmend radikalisiere, bedauerte er in einem Interview mit der katholischen Nachrichtenagentur „Zenit“. Im Hinblick auf den Täter von Nizza, Mohamed Lahouaiej Bouhlel, habe sich jetzt eindeutig herausgestellt, dass das Motiv kein persönliches, sondern ein politisches Problem war, eine bewusste Entscheidung für einen terroristischen Akt. Lahouaiej Bouhlel habe sein ganzes Geld von der Bank abgehoben und 100.000 Euro an seine Angehörigen in Tunesien geschickt. Es gebe Aussagen, nach denen er sich kurz vor dem Verbrechen radikalislamisch geäußert habe.

„Viele Muslime meinen, der Westen sei an allem schuld“
Viele junge, unzufriedene Menschen meinen, dass alle Probleme in der islamischen Welt im Handeln des Westens begründet liegen, bedauerte der Jesuit. Diese Leute hätten die Vorstellung, dass sie durch dschihadistische Taten den Islam verteidigen, ihre eigenen Probleme lösen und den Himmel erlangen könnten.  Viele würden sich durch das Internet radikalisieren, in dem ungestört terroristische Netzwerke aktiv seien. Diese würden auch von halbstaatlichen Autoritäten, etwa aus Saudiarabien, unterstützt, die dem Wahabismus anhängen. Sogar in einem Land wie Ägypten werde den Menschen eingeredet, der „wahre Islam“ würde durch Salafisten, Muslimbrüder oder Wahabiten vertreten. Die unbeschränkten Finanzmittel der Wahabiten – die mittlerweile auch großen Einfluss auf die Muslimbruderschaft ausübten – spielten dabei eine große Rolle.
Intellektuell und ökonomisch sei die islamische Welt derzeit Schlusslicht, betonte P. Samir. Anstatt den Grund dafür bei sich selbst zu suchen, in der falschen Theologie oder Auslegung des Koran, meinten viele Muslime, die Schuld liege am christlich geprägten Westen, an der „Kolonialgeschichte“ sowie an der „Einmischung“ der USA und Europas in die nahöstliche Politik.

Die Terrorattentate haben wohl mit dem Islam zu tun
Von islamischer Seite werde immer wieder betont, dass die Terror-Verbrechen nichts mit dem Islam zu tun haben, dass die Täter Fanatiker seien, dass der Islam « Friede » (Salām) bedeute. Auch der Rektor der Al-Azhar-Universität in Kairo, Ahmed Al-Tayyib, habe das auf seiner Tournee durch Europa vor einigen Wochen gesagt, in Deutschland, beim Papst und bei Präsident Hollande in Paris. Demgegenüber müsse man nur die Fahne des IS anschauen, betonte P. Samir Khalil Samir : „Diese Fahne ist schwarz wie die von Mohammed, und darauf steht: ‚Es gibt keinen Gott außer Gott und Mohammed ist sein Prophet‘, das ist das Credo aller Muslime. Dazu kommt das Schwert. Auch Mohammed hatte das Schwert als Symbol – so sieht auch die Fahne Saudiarabiens aus. Jene Menschen, die anderes sagen, wollen nicht der Realität ins Auge sehen“.

Die angestrebte Islamisierung der Welt
Seit der IS das grundlose Blutvergießen begonnen hat, sei es jederzeit und an jedem Ort möglich, dass ein Muslim, der eine Gehirnwäsche durchgemacht hat, Leute tötet, stellte der ägyptische Jesuit fest. Darauf sei die Welt nicht vorbereitet, auch die Armeen nicht. Es sei schwierig, gegen Terroristen einen organisierten Krieg zu führen. Die radikalisierten Islamisten würden sich oft auch auf den Einmarsch der US-geführten Koalition im Irak berufen und daraus ableiten, dass jene, „die die Macht haben, alles tun dürfen, während die anderen es akzeptieren müssen.“ Man dürfe auch den Einfluss der Wahabiten – deren Lehre in Saudiarabien sozusagen Staatsreligion ist – nicht übersehen. Sie würden ihre Vision des Weges zur angestrebten „Eroberung der Welt“ durch den fundamentalistischen Islam als wohlbegründet in Koran und Sunna betrachten.

„Wann wird der Koran endlich neu interpretiert?”
Die liberalen Muslime dagegen betonen, dass der Koran Anfang des 7. Jahrhunderts auf der Arabischen Halbinsel entstanden sei. Heute aber gebe es eine total andere Zivilisation und Kultur. Deshalb müsse der Islam neu interpretiert werden, nicht wörtlich, sondern dem Geist nach. Das sei es, was der ägyptische Präsident Abd-el-Fattah al-Sisi in seiner Rede an der Al-Azhar-Universität  an der Jahreswende 2014/15 gesagt habe – in Anwesenheit von Hunderten von Imamen: „Wir brauchen eine Revolution im Islam, eine neue Interpretation unserer Texte“. Damals hätten alle lang applaudiert, aber bis jetzt habe sich an der Auslegung immer noch nichts geändert, bedauerte der ägyptische Jesuit. (Zenit/poi)