Im folgenden Gespräch nimmt der muslimische Prof. al-Azm Stellung zu Syrien und zu seinen geflohenen Landsleuten:

Sadik_wikipediaStimmt das, dass die meisten Flüchtlinge, die wir in Scharen nach Europa wandern sehen, der gebildeteren Schicht angehören?
Viele von ihnen sind in der Tat gebildete Leute. Sie kommen aus städtischen Zentren und versuchen, ihr persönliches Schicksal zu verbessern. Einige kommen aber auch aus den großen Flüchtlingslagern in Jordanien, Libanon und der Türkei. Aus der Erfahrung der vergangenen Kriege im Irak und im Libanon würde ich sagen: Wenn Syrien und der Irak sich stabilisieren, dann gehen viele zurück. Ein kleinerer Teil wird Wurzeln in Europa schlagen. Doch das Problem der Binnenflüchtlinge ist viel größer. Was ist mit den einheimischen Schulen und Universitäten passiert? Der Krieg hat zu einem völligen Zusammenbruch in der Erziehung der Kinder im Schulalter geführt. Viele NGOs und Privatinitiativen bauen improvisierte Schulen in Syrien auf, so dass die Jugendlichen nicht so lange ohne Bildung bleiben.

Sie sprachen jüngst von einem „30jährigen Krieg“, der sich in dieser Region entfacht. Muslime gegen Muslime?
Es ist eher eine Metapher, die ich aus Europa übernommen habe. Es geht um einen generalisierten Krieg, der jetzt innerhalb der muslimischen Welt stattfindet, wie z.B. im Irak, wo es eine sunnitische Minderheit und schiitische Mehrheit gibt. Wenn beide nicht wollen, dass das Land komplett auseinanderfällt, müssen sie sich einigen, dass die Regierung des Landes weder schiitisch noch  sunnitisch sein kann, sondern säkular. An diesen Gedanken sollten sie sich allmählich gewöhnen…

Sie gelten als Optimist, doch Ihr Land blutet derzeit aus. Haben Sie Hoffnung für Syrien?
Wir haben im Nahen Osten ja schon einige Katastrophen am eigenen Leib gespürt: Die Invasion im Irak, die iranische Revolution, die Besetzung Kuweits, der Krieg im Libanon. Immer haben wir irgendeine Art von Hoffnung aufrechterhalten, dass diese Länder wieder aufgebaut werden konnten und können. Der gleichen Meinung bin ich auch über Syrien. Ich habe hautnah den Bürgerkrieg im Libanon erlebt und damals Momente der schieren Verzweiflung gehabt. Am Ende aber hat das Land alle Wirren überlebt – auch wenn einige Probleme noch vorhanden sind. Syrien wird auch eine schwierige Übergangsphase durchlaufen müssen. Doch am Ende wird das Land sicherlich wieder zusammenkommen. Das hoffe ich jedenfalls – mit  vorsichtigem Optimismus.  (3 sat)

Zu seiner Person:
, 1934 in Damaskus geb., syrischer Intellektueller (hat an der Universität in Damaskus moderne europäische Philosophie gelehrt, war Gastprofessor u.a. in Princeton, Amsterdam, Berlin) und Menschenrechtsaktivist. Seit 2012 wurde ihm  politisches Asyl in Deutschland gewährt. Mit seinen Werken „Selbstkritik nach der Niederlage“ und „Kritik des religiösen Denkens“, prangerte der Sunnit zentrale Dogmen des politischen und religiös-kulturellen Diskurses innerhalb der arabischen Gesellschaft radikal an und fordert seit Jahren deren Säkularisierung.