CiN EXKLUSIV-BERICHT: Der indische Pater Tom berichtet über seine 18-monatige Gefangenschaft als IS-Geisel im Jemen
„DAS GEBET IST DIE STÄRKSTE WAFFE UND DIE VERGEBUNG DIE BESTE MEDIZIN!“
Am 4. März 2016 stürmten bewaffnete IS-Terroristen das Gelände des Altersheims der Mutter-Teresa-Missionarinnen, töteten kurzerhand vier von ihnen sowie 12 muslimische Mitarbeiter. Pater Tom wurde wie durch ein Wunder verschont, doch von den Dschijadisten verschleppt, obwohl er nicht als Priester erkenntlich war. (Christen in Not berichtete seinerzeit mehrmals über ihn und hat sich öffentlich für seine Freilassung eingesetzt, Anm.) 557 Tage lang dauerte seine Isolationshaft an verschiedenen Orten, bis er am 12. September 2017 freigelassen wurde. Wie er den blutigen Überfall erlebt und die langanhaltende Tortur der Ungewissheit über sein weiteres Schicksal heil überstanden hat, erfahren Sie im folgenden Gespräch.
1. Wie geht es Ihnen heute, zwei Jahre nach Ihrer Freilassung?
Mein Tumor wurde erfolgreich behandelt und meinen Diabetes habe ich auch wieder im Griff. Durch den Mangel an Insulin-Tabletten während meiner Haftzeit verlor ich rund 30 kg. Wie Sie sehen, geht es mir inzwischen wieder einigermaßen gut.
2. Warum haben diese Fundamentalisten ausgerechnet unbewaffnete Menschen in einem Altersheim umgebracht, die obendrein im Dienste der ärmsten Muslime standen?
Auf diese Frage kann ich bis heute beim besten Willen keine passende Antwort finden…
3. Wie haben Sie Ihre Entführung erlebt?
Ich wurde sitzend an Händen und Füßen gefesselt und musste mitansehen, wie die Schwestern erhobenen Hauptes der Reihe nach von hinten erschossen wurden. Das war der größte Schock. Als mich die vermummten Männer dann in den Kofferraum ihres Fahrzeuges zerrten, dachte ich, dass sie mich auch bald umbringen würden. Doch es kam anders. Ich wurde auf halber Strecke in ein anderes Auto gepfercht bis wir nach einer längeren Fahrt ein Haus erreichten. Dort nahm man mir alles ab, was ich am Körper trug, gab mir neue Kleidung und sperrte mich in ein Zimmer ein. In den ersten Wochen behielt ich meine Stofffesseln an Händen und Beine, die meiste Zeit waren auch meine Augen verbunden. Meine gesamte 18-monatige Haftzeit verbrachte ich an sechs verschiedenen Orten. Da ich immer wieder auch diffuse Frauen- und Kinderstimmen vernahm, vermutete ich, dass mich diese IS-Kämpfer in ihren jeweiligen Wohnungen versteckt hielten.
4. Wer waren Ihre Aufpasser?
Ich konnte ihnen nie ins Gesicht schauen, denn entweder hatte ich verbundene Augen oder sie waren vermummt. So wusste ich nie, was sie mit mir genau vorhatten. Außerdem gab es kaum eine Kommunikation zwischen uns, da sie kein Englisch konnten.
5. Haben Sie physische Folter erlitten?
Das ist mir gottlob erspart geblieben.
6. Wenn sie von ihnen gut behandelt wurden, dann wurden Sie wohl als Tauschobjekt angesehen…
Das Gefühl hatte ich auch. Ich konnte es nicht fassen, dass einer der gleichen Männer, die meine Mitschwestern gnadenlos hingerichtet hatten, eines Tages sogar etwas wie Mitleid mit mir empfunden haben muss: er schenkte mir einen Schoko-Riegel.
7. Was gab man Ihnen normalerweise zu essen?
Reis oder Nudeln mit Bohnen, manchmal sogar Eier und Hühnerfleisch.
8. Hatten Sie während Ihrer Haftzeit nie Todesängste oder das Gefühl, vom Rest der Welt alleine gelassen zu werden?
Nach den schrecklichen Hinrichtungen im Altersheim befiel mich große Angst, der nächste zu sein. Diese Furcht hat sich dann aber in der Haft gelegt. Dank meiner starken Beziehung zu Gott, konnte ich bald wieder Mut schöpfen und eine gewisse Ruhe bewahren. Die Hafterfahrung hat mir gezeigt: Das Gebet ist zweifellos die allerstärkste Waffe!
9. Wie haben Sie den Tag Ihrer Freilassung in Erinnerung?
Es passierte im September vor zwei Jahren. Noch im Morgengrauen weckte mich mein Wächter in gebrochenem Englisch: „Gute Nachrichten für Dich. Wir schicken Dich zurück nach Kerala!“ Ich war stets auf das Schlimmste gefasst und nun sollte es doch ganz anders kommen? Sie gaben mir ein dunkles Hemd und einen knöchellangen schwarzen Wickelrock. Darüber musste ich mir eine Burka stülpen, um bei etwaigen Straßenkontrollen unerkannt zu bleiben. Dann fuhren sie mit mir los. Die Fahrt auf einem holprigen Feldweg dauerte ewig, bis das Auto plötzlich anhielt. Ich dachte, wir hätten schon das Ziel erreicht. Doch dann hörte ich hektisch geführte Telefonate auf Arabisch, bis mir die Männer zu verstehen gaben, dass sich jemand nicht an die Abmachung gehalten hatte. So mussten wir die ganze Strecke erneut zurückfahren. Als ich nachts wieder auf der gewohnten Pritsche lag und versuchte, mich von den heftigen, von der Fahrt verursachten Rückenschmerzen zu erholen, weckte mich abermals die Wache, packte mich in den Wagen bis wir Stunden später an derselben Stelle wie am Tag davor anhielten. Doch diesmal erwartete mich ein zweites Auto mit Fahrer, der ein Foto von mir hatte. Zum Abschied drückten mir meine Entführer sogar ein Proviant in die Hand und wünschten mir viel Glück bei der Weiterreise durch die Wüste. Ich dachte, ich träume, doch meine Träume wurden diesmal wahr: Nach mehrmaligem Umsteigen in diverse PKW hörte ich eine Stimme am Handy des Fahrers, die mir in perfektem Englisch versicherte, jetzt endlich das Nachbarland Oman erreicht zu haben und von dem Moment an in guten Händen zu sein. Ich wurde von einem herbeieilenden Arzt schnell durchgecheckt bevor mich ein Hubschrauber schließlich zur Hauptstadt Maskat brachte. In einem feudalen Hotelzimmer konnte ich mir endlich den langen Bart abrasieren sowie frische Hosen und Schuhe anziehen. Im Spiegel erkannte ich mich kaum wieder – die Personenwaage zeigte nur noch 56 kg an…
10. Wie ist es möglich, dass Sie die 557 Tage Gefangenschaft – trotz unzureichender medizinischer Versorgung – heil überstanden, haben?
Das grenzt an ein echtes Wunder!
11. Wer, glauben Sie, hat entscheidend zu Ihrer Freilassung beigetragen?
Sicherlich der Sultan Qabus von Oman. Ebenso die indische Regierung gemeinsam mit dem Vatikan. Doch ich bin davon überzeugt, dass auch die intensiven Gebete der vielen Gläubigen auf der ganzen Welt maßgebend zu meiner Freilassung geholfen haben.
12. Wissen Sie, ob je ein Lösegeld gezahlt wurde?
Was sich hinter den Kulissen abgespielt hat, kann ich leider bis zum heutigen Tage nicht sagen. Ich weiß nur, dass die indische Regierung normalerweise nicht erpressbar ist.
13. Wie ging es nach Ihrem kurzen Oman-Aufenthalt weiter?
Ich wurde mit der nächsten Maschine nach Rom geflogen und von den Salesianern im Vatikan mit großer Herzlichkeit empfangen. Emotional überwältigt war ich dann, als ich Papst Franziskus am 13. September traf und er sich nach meinem persönlichen Kreuzweg erkundigte. Als er mich beim Abschied spontan umarmte und mir zweimal die Hände küsste, bemerkte ich seine sichtliche Ergriffenheit. Das war der Moment, in dem die ganze Last der letzten Monate jäh von mir abfiel. Ich konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten …
14. Sind Sie dann von Rom nach Indien zurückgekehrt?
Ja, Ende September, als ich mich körperlich wieder halbwegs erholt hatte. Das Wiedersehen mit meinen Geschwistern war auch sehr bewegend. Seitdem lebe ich in Bangalore, im Don Bosco-Provinzialhaus der Salesianer.
15. Sie haben das große Glück gehabt, den Überfall überlebt zu haben. Doch was empfinden Sie persönlich, wenn Sie an das tragische Schicksal der 4 Ordensfrauen denken?
Ich weiß nicht, ob ich mir nicht eher mit ihnen den Märtyrertod gewünscht hätte. Einige Wochen vor ihrem gewaltsamen Tod waren die Nonnen bei gemeinsamen Exerzitien fest entschlossen, bis zum bitteren Ende ihre Mission im Jemen zu erfüllen.
16. Die fünfte Mutter-Teresa-Schwester, Oberin Sally, war hinter der Speisekammertür versteckt und wurde nicht von den IS-Killern entdeckt. Haben Sie Kontakt zu ihr und lebt sie noch im Jemen?
Ich habe sie im Januar 2018 in Abu Dhabi wiedergesehen. Nach dem erlebten Schock geht es ihr allmählich wieder besser. Nun arbeitet sie in Beirut.
17. Können Sie ihren Entführern je vergeben?
Jesus hat uns gelehrt, unseren Feinden zu vergeben und sie nicht mit gleichen Waffen zu bekämpfen. Seit meiner Festnahme habe ich täglich für sie gebetet, dass sie im Herzen umkehren mögen. Vergebung ist die beste Medizin.
18. Sollten Sie eines Tages wieder in die Mission gehen wollen, würden Sie wieder in den Jemen gehen?
Wenn es meine Mission sein soll, bin ich dazu bereit.
Der Salesianerpater Tom Uzhunnalil, 1960 im indischen Bundesstaat Kerala geboren, hatte zunächst Theologie studiert, dann ein Diplom in Telekommunikation absolviert und 1990 die Priesterweihe empfangen. Danach bildete er 18 Jahre lang in seiner Heimat einige tausend marginalisierte Menschen im IT-Bereich aus. Bis sein Wunsch, eines Tages in die Mission nach Jemen zu gehen (wie es schon vor ihm sein Onkel getan hatte, Anm.)in Erfüllung ging. So war er seit 2010 als einziger Priester für die katholische Gemeinde in der Hafenstadt Aden im Einsatz. Ebenso stand er den Mutter-Teresa-Schwestern als Hauskaplan zur Verfügung, die dort arme und einsame Muslime in einem Altersheim betreuten. 2015 verschlechterte sich die ohnehin schon äußerst angespannte Sicherheitslage im Land derart, dass die meisten der rund 5.000 indischen Gastarbeiter – samt P. Tom – noch in der Karwoche von der indischen Regierung in ihr Heimatland zurückgerufen wurden. Dort hatte man beim Geistlichen nach einem medizinischen Checkup Diabetes diagnostiziert sowie einen Verdacht auf Tumor im Hals. Nichtsdestotrotz ließ er sich nicht davon abbringen, nach kurzer Zeit freiwillig in das vom Krieg geschüttelte Jemen zurückzukehren, um jenen Gläubigen beizustehen, die nicht imstande waren, das Kriegsgebiet zu verlassen. Das war der Beginn seines Leidensweges.