Interview mit Pater Hanna Ghoneim über den Massenexodus seiner Landsleute Richtung Europa und die Binnenflüchtlinge in Syrien
von Pia de Simony
Der syrisch-melkitische Pfarrer Hanna Ghoneim ist Ende September aus Syrien zurückgekehrt. Während seines mehrwöchigen Aufenthaltes hat er viele Freunde und Bekannte aus seiner christlichen Gemeinde rund um Damaskus besucht und von ihnen aus erster Hand erfahren, wie schwer ihr Alltag zu bewältigen ist. Das Leben in Syrien sei für diese Menschen, nach vier Jahren anhaltendem Bürgerkrieg, unerträglich geworden. Groß sei die Angst vor der ungewissen Zukunft. Allen Widerständen zum Trotz findet der Seelsorger aber auch Lichtblicke – hauchdünne Strohhalme, an die er sich festklammert und die ihn nicht ganz verzweifeln lassen.
Seit dem 2. Weltkrieg hat unser Kontinent keine so große Völkerwanderung mehr erlebt. Die meisten Flüchtlinge kommen aus Ihrem Heimatland. Was geht Ihnen beim Ansehen dieser Massenemigration Richtung Europa so alles durch den Kopf – emotional und rational gesehen?
Wenn ich diesen Massenexodus aus meinem Land sehe, dann werde ich tatsächlich an Szenen aus dem 2. Weltkrieg erinnert. Die meisten meiner fliehenden Landsleute werden von einer panischen Angst angetrieben: Angst vor weiteren Mörsergranaten und Raketen, Angst vor der Zukunft, denn niemand weiß, was sich noch alles abspielen wird, Angst vor der immer schlimmer werdenden Armut, die sich in jedes Haus einschleicht und vor allem Angst vor dem Terror, die nicht unbegründet ist. Die Menschen sind überall verunsichert, es fehlen die Grundbedürfnisse zum Leben wie Nahrung und Wasser. Auch Strom und Kommunikation fallen vielerorts immer wieder, wegen plötzlicher Angriffe, stundenlang aus. Dagegen stellen sich die Flüchtlinge in Europa ein attraktives Leben vor, gerade in Deutschland, wo man sogar Geld zum Lebensunterhalt erhält, ohne zu arbeiten. Daher ist es keineswegs verwunderlich, dass man hierher ziehen will. Außerdem herrscht hier Frieden!
Wie stehen Sie zur Aussage der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Kommt alle zu uns. Wir schaffen das!“. Das hat ja, an der ungarischen gesperrten Grenze, die Massenemigration nach Deutschland erst richtig ausgelöst…
Ihre Äußerung kann ich schwer nachvollziehen. Ich weiß nicht, was die Bundeskanzlerin wirklich damit gemeint hat. Was man in der Deutschen Botschaft in Beirut erlebt, steht in krassem Widerspruch mit der Aussage von Frau Merkel. Die Beamten dort lehnen die meisten Visaanträge kategorisch ab!
Wissen Sie, ob es unter den derzeitigen syrischen Flüchtlingen auch Christen gibt?
Es gibt sicher etliche Christen unter den Flüchtlingen. Ich kenne einige in Österreich und auch in Deutschland. Die meisten sind Jugendliche, die sich dem Militärdienst entziehen wollen oder Arbeit suchen, um ihre Eltern oder Familien in ihrem Heimatland zu unterstützen. Dadurch, dass ich mich eher für die vielen Binnenflüchtlinge in Syrien einsetze, habe ich wenig Zeit für die hiesigen Neuankömmlinge. Ich helfe aber den geflohenen Jugendlichen durch Rat und seelische Betreuung.
Die syrischen Flüchtlinge haben es nach vier Jahre langem Durchhalten in Ihrem kriegsgeschüttelten Land nicht mehr ausgehalten und sind zu uns ins sicherere Europa geflüchtet. Glauben Sie, wenn Österreich ihnen ein „Asylrecht auf Zeit“ gäbe, wie es derzeit hierzulande in Erwägung gezogen wird, dass Syrer nach einem dreijährigen Aufenthalt hier, wieder in ihr Heimatland zurückkehren wollen – vorausgesetzt, dass dort wieder Frieden herrscht?
Bis jetzt sehe ich diese Idee „Asylrecht auf Zeit“ als unrealistisch. Wenn Asylwerber mit Kindern kommen und diese Kleinen sich rasch integrieren, wie können die Eltern dann zurückkehren? Bis jetzt heißt es in der Politik, die Asylweber seien eine zusätzliche Wirtschaftskraft. Kann man sich vorstellen, dass die hiesige Politik indirekt für die syrische Wirtschaft agiert? Wird den Asylwerbern Deutsch beigebracht, damit sie künftig nach Syrien zurückkehren? Es fällt mir schwer, das zu glauben. Wenn der Friede in diesem Land wieder herrscht – was derzeit noch schwer abzusehen ist –
dann werden sicher viele zurückkehren, die mit der gegenwärtigen Regierung kein Problem haben. Das sind gerade Geschäftsleute und Gebildete – und natürlich die Christen, wenn nichts sie daran hindert. Letztere haben generell nichts gegen das Regime Assads. Für Kriminelle und Islamisten aber, wird die Rückkehr schier unmöglich sein. Und für die armen Leute bleibt die neue Heimat in Europa ein sicherer Hafen.
Ich habe jüngst am Wiener Westbahnhof mit vielen syrischen Flüchtlingen gesprochen. Dabei ist mir aufgefallen, dass sich kein einziger Christ unter ihnen befand. Auf meine Frage hin, ob sie vor Präsident Assad oder vor der Terrormiliz IS geflohen sind, antworteten alle unisono: vor beiden!
Unter dem Tarnmantel „Flüchtlinge“ strömen viele unbekannte Menschen nach Europa. Ich ordne diese Menschen in vier Kategorien ein, ohne Statistiken zu wagen: a) Menschen, die Angst vor Mörsergranaten, vor der ungewissen Zukunft und vor den Terroristen haben; b) Menschen, die nach Arbeit suchen, um ihre Familien zu versorgen; c) Kriminelle, die sich Terrorgruppen angeschlossen und gestohlen haben – viele unter ihnen sogar etliche Menschen auf dem Gewissen haben; d) Schmarotzer, die die Missstände und Gunst der Stunde ausnützen, um ihren schon längst gefassten Plan, ins Ausland auszuwandern, zu verwirklichen. Dass alle unisono behaupten, sie seien sowohl vor Präsident Assad als auch vor den IS-Schergen geflohen, ist dadurch zu begründen, dass sie von den Schleppern so belehrt wurden, um ein Asylrecht zu erhalten. Das Bekenntnis nur zu einer Seite könnte nämlich zur Ablehnung des Asylantrags führen…
Mit welchen Akteuren sähe für Sie, optimal gesehen, die politische Zukunft Syriens aus?
Das syrische Volk ist der Akteur schlechthin! Die noch dort lebenden Syrer – Muslime wie Christen – stehen zu ihrem Staat hinter Assad. Das ist sogar der Fall bei all jenen Sunniten, die die strenge Lebensart des IS nicht teilen. Sie hassen die IS-Miliz, da die meisten Ermordeten aus ihren eigenen Reihen kommen. Es gibt derzeit keine Alternative zum IS außer Assad. Wenn es jetzt Wahlen gäbe, würde er, meiner Meinung nach gewinnen.
Kennen Sie eine christliche Familie persönlich, deren Haus von Islamisten zerstört und geplündert wurde und die jetzt geflohen sind?
Das sind viele Binnenflüchtlingsfamilien, die ich mit Hilfe von Priestern, Ordensschwestern und Jugendlichen vor Ort und durch die Unterstützung der hiesigen Freunde – u.a. CSI-Österreich – versorge. Ich nenne als Beispiel meine ehemalige Pfarrgemeinde Hararsta bei Duma (Vorort von Damaskus, Anm.). Alle Mitglieder leben seit drei Jahren weit weg von ihrem Heimatort – dort, wo der IS noch nicht eingedrungen ist und wo sie sich unter der Kontrolle der Regierung sicherer fühlen.
Gibt es, Ihrer Meinung nach, auch ein Licht am Ende des Tunnels?
In den zwei Wochen meines Aufenthaltes in Damaskus, habe ich Erstaunliches wahrgenommen: In dem Moment, wo etwa Häuser gesprengt und dem Erdboden gleichgemacht werden, errichtet der Staat neue Gebäude in Rekordzeiten auf und stellt die brachliegende Infrastruktur wieder her. Ich weiß nicht, ob bald doch ein neues Syrien aus der Asche entstehen wird. Ich jedenfalls, habe mit eigenen Augen gesehen, dass ernsthaft daran gearbeitet wird.