„Was immer du über China sagst, trifft zu. Irgendwo in diesem Riesenreich.“
Über die Situation der Christen in der Volksrepublik China gibt es unterschiedliche Berichte. Während sie in manchen Regionen Repressionen ausgesetzt sind, können sie in anderen Provinzen ihren Glauben relativ frei leben. Kann man somit von Christenverfolgung in China sprechen? Dazu ein Beitrag von OMF Deutschland (früher: Überseeische Missionsgemeinschaft). Der Mitarbeiter, der mehr als zehn Jahre in dem kommunistischen Land gearbeitet hat und immer wieder vor Ort ist, wird aus Sicherheitsgründen nicht namentlich genannt.
„Ich weiß nicht, ob ich weiter Christ sein kann“, sagt Helen traurig. Die Studentin steht noch ganz am Anfang ihres christlichen Glaubens. „Meine Lehrerin hat mich eingeladen, in die Partei einzutreten.“ In China ist es gesetzlich verboten, zugleich Christ und Mitglied der kommunistischen Partei sein. 90 Millionen Chinesen – etwa sieben Prozent der Bevölkerung – sind Parteimitglieder. Warum bringt die Anfrage Helen in einen heftigen Gewissenkonflikt? Nur den akademisch und moralisch Besten wird ein Eintritt angeboten. Es ist eine hohe Ehre. Außerdem fördert eine Mitgliedschaft die Karriere. Helen: „Wenn ich Nein sage, ruft meine Lehrerin vielleicht zu Hause an, und dann bekomme ich großen Ärger.“ Der Stiefvater, ein Polizist, hatte ihr bereits verboten, eine Bibel ins Haus zu bringen. „Und was werden meine Kommilitonen sagen, wenn ich ausschere?“
Atheistische Indoktrination – vom Kindergarten bis zur Universität
Ist das nun Christenverfolgung? Gewiss lebt Helen unter mehr Restriktionen, als Christen in Europa. Einerseits erkennt der chinesische Staat fünf Religionen bzw. Konfessionen an – Protestantismus, Katholizismus, Islam, Buddhismus und Daoismus (eine chinesische Religion) –, andererseits erfolgt vom Kindergarten bis zur Universität eine atheistische Indoktrination. Studenten werden eindringlich davor gewarnt, sich einer christlichen Hochschulgruppe anzuschließen. Sie sind nicht legal, da sie nicht zur offiziell anerkannten protestantischen Drei-Selbst-Kirche gehören. Aus der Millionenmetropole Hangzhou – rund 200 Kilometer südlich von Shanghai – ist zu hören, dass die Polizei eine christliche Studentengruppe auflöste, alle Teilnehmer an die Universität zurückbrachte, wo sie sich vor Professoren und telefonisch bei den Eltern entschuldigen und Besserung geloben mussten. In China wechseln Phasen relativer Lockerung mit solchen, in denen das innenpolitische Klima „anzieht“. Zurzeit leben wir in letzterer.
Es gibt keinen „Gott chinesischer Ausprägung“, aber…
Dieses Jahr veranstaltete die offizielle Kirche ein „Symposium zur Sinisierung (also eine Kultur chinesisch zu formen, Anm. d. Red.) des Christentums im Gedenken an die 500-Jahr-Feier der Reformation“. Der Titel entspricht der Devise des Mao-Nachfolgers Deng Xiaopings (1904–1997) vom „Sozialismus chinesischer Ausprägung“. Während es sicher keinen „Gott chinesischer Ausprägung“ gibt, so würden doch auch westliche Missiologen zustimmen, dass Christus und das Christentum in jeder Kultur, so auch in der chinesischen, inkarniert werden müssen. Wie das aussehen soll, muss die chinesische Kirche im Fragen vor Gott, aber auch in der Auseinandersetzung mit den politischen Gegebenheiten herausfinden. Und das mag ganz anders aussehen, als wir es uns im Westen vorstellen.
„Was immer du über China sagst, trifft zu“
In den vier Jahrzehnten nach der Kulturrevolution (sie endete 1976) hat China ein Kirchenwachstum von historisch nie dagewesenem Ausmaß erlebt. Kann man bei einer so großen Zahl von Christen noch von Christenverfolgung sprechen? Obgleich die Hausgemeinden sich illegal versammeln, werden sie an den allermeisten Orten geduldet, selbst wenn sie aus mehreren Hundert Gläubigen bestehen. Der ehemalige Missionsleiter von OMF, Wolfgang Schröder, pflegte zu sagen: „Was immer du über China sagst, trifft zu. Irgendwo in diesem Riesenreich.“
Tausende Kreuze wurden entfernt – aber nur in einer Provinz
Ja, es gibt vereinzelt Christen, die im Gefängnis sitzen. Aber auch nicht immer aus rein religiösen Gründen, manchmal geht es um andere juristische Vergehen. In der Provinz Zhejiang (Südostchina) wurden seit 2014 Tausende von großen roten Kirchenkreuzen entfernt – aber eben nur in dieser einen von knapp 30 Provinzen. Einige Pastoren, die sich dieser Anordnung widersetzten, wurden inhaftiert. Es wurden sogar einige Kirchen abgerissen, bei denen nicht alle Baugenehmigungen eingeholt worden waren. An anderen Orten können Gemeinden mit staatlichen Zuschüssen zum Neubau ihrer Gotteshäuser rechnen. Während die christliche Weltöffentlichkeit wegen der entfernten Kreuze aufschrie, fragte ein chinesischer Pastor in einem nachdenklich machenden Artikel, der unter anderem auf der Plattform „ChinaSource“ erschien, ob chinesische Christen zu stolz geworden seien, ob immer prächtigere und größere Kirchenbauten wirklich Gott verherrlichten oder nur der Selbstrepräsentation dienten. Er forderte zu Reue und Umkehr zu den biblischen Grundlagen christlichen Lebens auf.
Womit zu rechnen ist
Das neue Religionsgesetz – die sogenannten „Vorschriften für religiöse Angelegenheiten“, die Anfang Februar 2018 in Kraft treten werden – droht Vermietern von religiösen Versammlungsräumen nicht registrierter Gemeinden hohe Strafen an. Es ist damit zu rechnen, dass sich die größeren Gemeinden wieder in kleine Zellen teilen und in Privathäusern treffen müssen. Waren es nicht diese verbindlichen Versammlungen im privaten Rahmen, durch die sich das Christentum in den letzten Jahrzehnten so rasant ausgebreitet hat? Könnte es sein, dass sich darin Gottes Wille für eine lebendige Gemeinde ausdrückt, die sich weder um Finanzierung von Gebäuden und Hauptamtlichen noch um die Unverbindlichkeit unserer Gottesdienstbesucher sorgen muss? Während so einerseits das Priestertum aller Gläubigen gefördert wird, bleiben Schulung und gute biblische Lehre aber eine ernstzunehmende Herausforderung. Hier können theologische Internetangebote und christliche WeChat-Gruppen – ein soziales Netzwerk wie Facebook – eine große Hilfe sein.
Warum der christliche Glaube für Chinesen attraktiv ist
Sicher gibt es eine Vielzahl von Gründen, warum der christliche Glaube und Hausgemeinden für moderne Chinesen so attraktiv sind. Es fängt bei der Feststellung des Kirchenvaters Tertullian (160–220) an, dass „das Blut der Märtyrer der Same der Kirche ist“. Ein wichtiger Grund scheint auch zu sein, dass in den verbindlichen Gemeinschaften die tiefe menschliche Sehnsucht nach Vertrauen und Angenommensein gestillt wird. Die politischen Kampagnen des Begründers der kommunistischen Herrschaft in China, Mao Tse-tung (1893–1976), das System intensiver Nachbarschaftskontrollen und besonders die Kulturrevolution, in der Kinder aufgefordert wurden, sogar ihre Eltern zu verraten, haben eine Atmosphäre tiefen Misstrauens geschaffen. Das wirft den Einzelnen auf sich selbst zurück. In der Vergangenheit war der Zusammenhalt innerhalb der Familie besonders stark, während außerhalb Misstrauen herrschte. Allerdings sind durch Chinas Ein-Kind-Politik der vergangenen 35 Jahre – sie wurde im Januar 2016 auf eine Zwei-Kind-Politik erweitert – auch die erweiterten Familien enorm geschrumpft, so dass Orte des Vertrauens immer kleiner geworden sind. Die Verstädterung und Modernisierung führt zu zunehmender Individualisierung und Vereinsamung. Kein Wunder, dass verbindliche Hausgemeinden so anziehend sind!
Was man nicht kennt, vermisst man nicht
Wie erleben einheimische Christen die Einschränkungen religiösen Lebens? Aufgewachsen in einem nicht-demokratischen Land, sind sie von Kind auf an viele Restriktionen in allen Bereichen des Lebens gewöhnt. Was man nicht kennt, vermisst man nicht. Ein Pastor sagte einmal: „Wir wollen gar keine westliche Demokratie. Hier ist die Gemeinde Jesu unter Restriktionen gewachsen. Wie aber geht es Euren Kirchen im Westen?“ Wie hat sich Helen entschieden? Durfte ihr ausländischer Mentor, der nie in solch einem inneren Gewissenskonflikt gelebt hatte, da in die eine oder andere Richtung Rat geben? Helen brachte ihre innere Gewissensnot vor Gott. Und die Lehrerin hat nie wieder gefragt. So lebt Helen ihren Glauben an einen mächtigen und liebevollen Gott fröhlicher als je zuvor. Können wir nun von Christenverfolgung in China sprechen? Das hängt erstens von meiner Definition von Verfolgung ab. Zweitens, von der soziokulturellen Brille, durch die ich die Situation der Christen in China betrachte. Drittens davon, ob ich mein Auge auf 100 Christen im Gefängnis werfe oder aber auf 100 Millionen, die ihren Glauben in relativer Freiheit ausüben.
Quelle: idea