Wir veröffentlichen ein Interview im unveränderten Wortlaut, das unsere CSI-Sprecherin Pia de Simony im November 2012 in Wien mit Mar Gregorios (im Bild), einem der entführten syrischen Erzbischöfe, geführt hat:
Der syrisch-orthodoxe Metropolit von Aleppo, Mar Gregorios Youhanna Ibrahim, traut sich oft nicht mehr auf die Straße. Manchmal sei es wegen der Gefechte zwischen den Rebellen und den regimetreuen Truppen so gefährlich, dass er im vergangenen September in letzter Minute sogar seine geplante Reise zum Papst in den Libanon absagen musste.
Bis 2001 haben die Christen in Syrien 4 Jahrzehnte lang friedlich mit Muslimen zusammengelebt. Dann kam der 11. September. Ab dann tauchten plötzlich vereinzelt kleine Gruppen islamischer Fundamentalisten auf. Hie und da schossen neue Moscheen wie Pilze aus dem Boden. Ab März 2011 schwappte dann der sog. „arabische Frühling“ auch auf Syrien über. Herr Erzbischof, kann man in Ihrem Land überhaupt von einem „arabischen Frühling“ sprechen?
Keineswegs, das wäre irreführend. Wir Christen fühlten uns im Land wohl und waren nicht unterdrückt, wie etwa in Ägypten oder anderswo. Wir durften problemlos Kirchen und christliche Schulen bauen. Der blutige Konflikt ist in erster Linie ein Import von außen: al-Qaida-nahe Soldaten und Söldner – etwa aus dem Irak, Afghanistan und Libyen – versuchen das Land zu destabilisieren. Sie gehören zur Rebellenbewegung, die finanzielle Unterstützung von Saudi-Arabien, Katar und jetzt sogar von der Türkei erhält. Wenn man bedenkt, daß wir bis vor kurzem noch mit den Türken brüderliche Beziehungen pflegten… In dieser Hinsicht hat hier ein dramatischer Wandel stattgefunden.
Dann ist das falsch, wenn hier von einem Bürgerkrieg die Rede ist…
Das ist richtig. Denn nicht das Volk befindet sich in einem Kriegszustand sondern einzelne Gruppen, die vom Ausland mit Waffen eingeschleust werden, schüren den Konflikt. Doch die Gefahr ist inzwischen groß, daß dieser bald in einen Bürgerkrieg ausarten könnte. Bislang gab es schon weit mehr als 17.000 Todesopfer und 400.000 Verletzte. Ebenso viele sind übrigens seit Ausbruch der Unruhen bereits ins benachbarte Ausland – nach Libanon und Jordanien – geflohen.
Wie sieht die jetzige Lage in Aleppo aus?
Seit 4 Monaten haben wir im wahrsten Sinne schlaflose Nächte. Meine Stadt Aleppo, bis vor kurzem eine blühende Wirtschaftsmetropole, liegt nun brach. Es vergeht kein Tag ohne Begräbnisse… Der 12 km lange bedachte Souk (größter Basar im arabischen Raum und Weltkulturerbe, Anm.), Glanzstück der Altstadt mit rund 1000 Geschäften, ist im vergangenen September durch Kämpfe der Rebellen und Regierungstruppen in Flammen aufgegangen. Nun traut sich nach 5 Uhr nachmittags keiner mehr auf die Straße: Aleppo gleicht inzwischen einer Geisterstadt. Die obdachlos gewordenen Flüchtlinge haben sich in Unis und Schulen einquartiert.
Und wie steht es um die Christen?
Ein gutes Drittel von ihnen hat Aleppo bereits verlassen. In Homs wurden durch islamistische Rebellen praktisch alle aus ihren Häusern vertrieben. Viele der Kämpfer verachten die Christen und versuchen sie zu erniedrigen. Oft werden sie entführt – mit der Forderung eines hohen Lösegeldes – oder, im schlimmsten Falle getötet.
Ist dann nicht längst eine Christenverfolgung im Gang?
Nein, wir sind nicht die eigentliche Zielscheibe, auch wenn etwa in Homs bei den Gefechten rund 160 Christen getötet wurden. Wir fühlen uns als Bürger aber schutzlos. Unsere Häuser und Kirchen werden von den Rebellen geplündert und von ihnen als Quartiere benutzt.
Woran hat die syrische Bevölkerung am meisten zu leiden – Christen wie auch Muslime?
Sie brauchen die elementarsten Dinge zum Überleben! Die Wohnungen vieler Menschen sind zerstört, daher fehlt ihnen ein Dach über dem Kopf, aber auch Heizöl, Wasser, warmes Essen und Decken. Um diese Leute zu versorgen, braucht unsere Kirche dringend humanitäre Hilfe. Es gibt bereits rund 2 Millionen syrische Flüchtlinge, die im eigenen Land Unterschlupf suchen. Sie gehören zum ärmeren Teil der Bevölkerung.
Was gehört dringend getan, um zu vermeiden, daß Syrien in eine noch größere Katastrophe hineinschlittert?
Ich fordere einen umgehenden Waffenstillstand. Alle Beteiligten – auch der neu gegründete syrische Oppositionsblock (nach tagelangen Debatten der untereinander zerstrittenen Oppositionskräfte ins Leben gerufen, Anm.) – sollten sich mit der Regierung an den Verhandlungstisch setzen, um gemeinsam nach einer friedlichen Lösung zu suchen. Denn, eins ist klar: wenn diese blutigen Kämpfe andauern, wird Syrien in einem Jahr ein totes Land sein.
Jüngst ist eine Bombe vor Ihrer Kirche explodiert: Fürchten Sie um Ihr Leben?
Ja, mein Leben ist in ernsthafter Gefahr! Doch ich werde, komme was wolle, hier in Aleppo bei meiner Gemeinde bleiben und sie weiterhin betreuen – so gut es halt geht.
(Aus: „Christen in Not“, Dezember-Ausgabe 2012)