Im Anschluß an die Vesper findet ein Trauermarsch mit den Gläubigen der armenischen Kirchengemeinden durch Wiens Innenstadt statt, zu dem alle eingeladen sind!
Wien – Als einen Höhepunkt der Ökumene hat der armenisch-apostolische Patriarchaldelegat für Mitteleuropa und Skandinavien, P. Tiran Petrosyan, in einem Interview mit der „Wiener Zeitung“ die Gedenkvesper im Stephansdom bezeichnet, die auf Einladung von Kardinal Christoph Schönborn am 24. April – dem 100. Jahrestag des Beginns des Völkermords an den Armeniern im Osmanischen Reich –um 17 Uhr stattfindet. Diese Vesper sei kein „Requiem“, nicht zuletzt deshalb, weil am 23. April die 1,5 Millionen Opfer des Völkermords von Katholikos-Patriarch Karekin II. heilig gesprochen werden. Somit sei die Gedenkvesper nicht nur eine Zeit der Trauer, sondern auch „eine Zeit des Mutes und der Freude mit den Heiligen“. Wörtlich fügte der Patriarchaldelegat hinzu: „Der Schmerz bleibt, aber die Kraft unserer Kirche für die Zukunft ist sehr spürbar, ob in Armenien selbst oder in der Diaspora“. (Bild re.: Genozid-Denkmal Tsitsernakapert in Jerewan, Quelle: wikipedia)
Ein Kampf auf Leben und Tod
Den Völkermord ab 1915 bezeichnete der Patriarchaldelegat in dem Interview als den „größten Schlag für das armenische Volk und die armenische Kirche“, die in den Jahrhunderten der staatlichen Nichtexistenz den gesellschaftlichen Zusammenhalt der Armenier bewahrt und Basisarbeit für die Menschen im sozialen Bereich und in der Bildung geleistet habe. Durch die Verluste während des Völkermords sei nur ein Fünftel des geistlichen Erbes erhalten geblieben. Eine kleine Hoffnung sei die Neugründung eines eigenen Staates nach 1918 gewesen. Aber das Sowjetsystem habe diesen Versuch einer Wiedergeburt rasch wieder beendet. Für die Kirche sei es wieder um einen Kampf auf Leben und Tod gegangen. Erst nach dem Zusammenbruch des Kommunismus habe es Hoffnung auf eine neue Zukunft gegeben.
Patriarchaldelegat P. Tiran Petrosyan: „„Jugend entdeckt jenes religiöse Bekenntnis, für das ihre Vorfahren mit ihrem Blut hatten bezahlen müssen“
Die Kirche habe beim Wiederaufbau der Demokratie eine wichtige gesellschafts- und sozialpolitische Rolle übernommen, so P. Petrosyan. Nicht Restauration oder Revolution seien gefragt, sondern Evolution. Natürlich gebe es zahlreiche Probleme, aber das Wichtigste sei, „die christlichen Werte und das moralische Selbstbewusstsein“ zu erneuern. Der Religionsunterricht sei wieder als Pflichtfach in den Schulen eingeführt worden: „Viele Jugendliche tragen unsere Werte schon weiter, jenes religiöse Bekenntnis, für das ihre Vorfahren mit ihrem Blut hatten bezahlen müssen“. Auch in der Diaspora gehe es um die Verbindung der jungen Generation mit der Heimat und dem dortigen christlichen Erbe. Die Kirche sei in diesem Zusammenhang gleichsam eine Brücke.
Ohne Erinnerung, keine Gegenwart
Ohne Erinnerung gebe es keine Gegenwart, ohne das Selbstbewusstsein in der Gegenwart keine Zukunft, unterstrich der Patriarchaldelegat. Die Vergangenheit sei da, aber sie solle den Menschen von heute Kraft und Mut für die Zukunft geben: „Wir können die Vergangenheit nicht ändern, weder die Armenier noch die Türken, wir können aber in der Zukunft etwas dafür tun, dass solche Dinge nie und nimmer mehr passieren“. Erinnern bedeute historisches Bewusstsein, das gelte auch für die Täter: „Auch für sie wäre es heilsam, historische Verantwortung zu übernehmen“.
Tück: „Ohne Anerkennung der Wahrheit keine Heilung der Wunden“
Der Wiener Theologe Prof. Jan-Heiner Tück hat in der „Neuen Zürcher Zeitung“ (NZZ) zur Auseinandersetzung der offiziellen Türkei mit den Äußerungen von Papst Franziskus zum Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich Stellung genommen. Papst Franziskus habe mit den Worten „Wenn die Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen“ von einer „Pflicht der Erinnerung“ gesprochen. Um die Wunde zu schließen habe Franziskus die Türkei eindringlich gebeten, ihre Haltung in der Armenier-Frage zu revidieren. Der Papst trete für ein moralisches Konzept der Erinnerung ein, das „durch das Gedenken an das Leid der Vergangenheit das Sensorium für die Opfer der Gegenwart schärfen will“. Mit den verfolgten Christen in Syrien und im Irak habe der Papst die Opfer namentlich bezeichnet, die jetzt der Solidarität am meisten bedürfen. Die päpstliche Botschaft sei klar, auch wenn sie in Ankara noch auf taube Ohren stoßen mag: „Ohne Anerkennung der Wahrheit der Geschichte keine Heilung der Wunden. Ohne Heilung der Wunden keine Versöhnung. Ohne Versöhnung kein Friede“.
Leugnung des Völkermordes an den Armeniern in den türkischen Schulbüchern
Die Weigerung der Türkei, den Völkermord an den Armeniern einzugestehen, scheine mit einem problematischen Begriff der „nationalen Ehre“ zusammenzuhängen, stellte Prof. Tück fest. Jedenfalls könne bis heute jeder, der in der Türkei die Massaker an den Armeniern als Genozid bezeichnet, wegen „Beleidigung der türkischen Nation“ strafgesetzlich verfolgt werden, wie es etwa auch dem Literatur-Nobelpreisträger Orhan Pamuk ergangen sei. In den Schulbüchern des Landes werde der Völkermord an den Armeniern bis heute geleugnet. Recep T. Erdogan habe als Ministerpräsident 2011 sogar eine Skulptur abreißen lassen, die an das Verbrechen erinnerte, „als könne die Zerstörung der Denkmäler den Makel der Vergangenheit auslöschen“. Aus Protest gegen diesen Geschichtsrevisionismus hätten im September 2014 mehr als 100 türkische Intellektuelle gefordert, die Geschichtsbücher zu überarbeiten und sich bei den Armeniern offiziell zu entschuldigen.
Papst Franziskus: 1. Völkermord des 20. Jahrhunderts“
Der Papst gebe diesen Stimmen Rückendeckung, wenn er sich – anders als manche westliche Regierung – von den Imperativen der türkischen Gedächtnispolitik nicht beeindrucken lasse, so der Theologe. Prof. Tück wörtlich: „Franziskus weigert sich, die Würde der Opfer durch Kaschierung der Gräuel ein weiteres Mal zu verletzen“. Franziskus habe ein Wort von Johannes Paul II. aufgegriffen, der schon bei seinem Armenien-Besuch 2001 vom „ersten Genozid des 20. Jahrhunderts“ gesprochen hatte. Der polnische Papst habe zuvor der katholischen Kirche eine Reinigung des Gedächtnisses („purificazione della memoria“) abverlangt und die kirchlichen Verfehlungen – Stichworte Antijudaismus, Kreuzzüge, Inquisition – in den großen Vergebungsbitten des Heiligen Jahres 2000 eingestanden. (poi)