Beirut
Libanon: Humanitäre Lage „katastrophal“
Laut Hilfsorganisationen befindet sich das Land mit großer christlicher Bevölkerungsminderheit „am Boden“.
Vincent Gelot von Oeuvre d’Orient äußert sich im Interview mit Delphine Allaire von Radio Vatikan über die humanitäre Lage v.a. im Süden des Libanon:
„Im Libanon gibt es heute 1,2 Millionen Vertriebene bei einer Gesamtbevölkerung von 6 Millionen Menschen, d.h. fast 20 Prozent der Bevölkerung des Landes sind heute vertrieben! Dabei beherbergt das Land schon seit 13 Jahren zwei Millionen syrische Flüchtlinge. […] Das ist ein Land, in dem der Staat nicht funktioniert und abwesend ist. Es gibt seit zwei Jahren keinen Staatspräsidenten und keine voll funktionsfähige Regierung. Außerdem macht der Libanon seit fünf Jahren eine Wirtschafts- und Finanzkrise durch, einschließlich Zusammenbruch des öffentlichen Sektors und Zusammenbruch der lokalen Währung, des libanesischen Pfunds. Es gab das Einfrieren der Bankkonten der Libanesen im Jahr 2019, die Explosion im Hafen von Beirut am 4. August 2020, die katastrophalen Auswirkungen des politischen Vakuums insbesondere auf die Kinder und auf das Bildungswesen. Man spricht von 300.000 libanesischen Kindern, die die Schule abgebrochen haben – und das waren die Zahlen vor Beginn des Krieges! Von daher ist die Situation vor Ort absolut kritisch, ernst und besorgniserregend. […] Jetzt, mit dem Krieg, haben wir neue Herausforderungen, nämlich die Aufnahme von weiteren Flüchtlingen und Vertriebenen. Wir sprechen da von 1,2 Millionen Vertriebenen in den Schulen, in den Klöstern, in verschiedenen Zentren. Das alles ist natürlich mit Kosten verbunden. Man muss diese Menschen, die alles verloren haben, die traumatisiert sind, unterbringen, sie ernähren, versuchen, die Kinder in die Schule zu bringen. Und dann ist da auch noch die Hilfe für die Verletzten. Nehmen Sie zum Beispiel einen unserer Partner: ein Krankenhaus, das von den Maroniten getragen wird. Es behandelt vor allem Verbrennungsopfer, die Opfer der Bombenangriffe geworden sind. Man muss dazu wissen, dass in dieser Krise viele Zivilisten betroffen sind. Die 1,2 Millionen Vertriebenen sind hauptsächliche Zivilisten, keine Kämpfer oder Milizen. Und schließlich gibt es auch viele Menschen, die sich weigern, ihre Dörfer zu verlassen. Vor allem im Süden des Libanon gibt es Dörfer an der Grenze zu Israel, wo die christliche Bevölkerung nicht weggehen will, weil sie Angst hat, dass ihre Häuser dann von Milizionären besetzt werden könnten. Auch diesen Menschen muss man helfen, die von der Welt abgeschnitten sind, die keinen Strom und keine Lebensmittel mehr haben. […]
Ein weiteres Augenmerk gilt den Familien aus Syrien, die vor Jahren wegen des Kriegs in ihrer Heimat ins Nachbarland Libanon geflohen waren. Sie finden sich jetzt plötzlich von neuem in einem Krieg wieder – einem Krieg, der nicht der ihre ist. Viele von ihnen kehren darum nach Syrien zurück. Ihre Lage ist katastrophal, denn diese Familien waren bereits Flüchtlinge und sind daher besonders gefährdet. Stellen Sie sich vor: Es gibt in den Flüchtlingslagern im Libanon Kinder, die syrischer Herkunft sind, aber Syrien nie gesehen haben und in den Lagern geboren wurden. Die jetzige Krise führt auch zu Spannungen zwischen Libanesen und den Syrern. Es ist sehr kompliziert – und es handelt sich um zwei Millionen Menschen, das ist also fast ein Drittel der libanesischen Bevölkerung. […] Es ist also eine absolut ernste Krise, die sich derzeit auf libanesischem Boden abspielt. Man muss sich vorstellen, dass Syrien ein Land ist, das am Boden liegt, ein Land, das von dreizehn Jahren Krieg verwüstet ist. Es ist ein Land, das unter internationalen Sanktionen steht und in dem 15% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben. Ein Land, in dem bereits sechs Millionen Syrer Binnenvertriebene sind und dessen öffentliche Infrastruktur und große Metropolen größtenteils zerstört sind. In diesem Kontext kommen nun die Flüchtlinge aus dem Libanon an. […] Die Leute sind müde. Unter den Vertriebenen, die aus dem Südlibanon kommen, gibt es Menschen, die uns sagen, dass sie schon zweimal in ihrem Leben vertrieben wurden. Es ist also wirklich sehr hart, was sie erleben. Es gibt ein verbreitetes Gefühl der Erschöpfung, und das hat auch mit der wirtschaftlichen Depression zu tun, die jetzt schon seit fünf Jahren anhält. Sie ist tödlich, sie zerstört wirklich etwas in der Seele dieses Landes. Junge Leute und gut ausgebildete Personen machen, dass sie fortkommen von hier; das Bildungssystem, das Gesundheitssystem und das Sozialsystem liegen am Boden. Alle Dynamik, wie man sie noch bei den Hilfen nach der Explosion im Hafen 2020 spürte, ist dahin. Diese Prüfung ist härter.“