Alarmruf des maronitischen Kardinal-Patriarchen Rai in New York – Libanesischer Caritas-Präsident: „Wir können nicht den Preis für die Interessenpolitik der größeren Staaten zahlen“
New York-Beirut – Die ungeheure Zahl syrischer Flüchtlinge, die im Libanon Zuflucht gefunden haben, bedrohe das interne Gleichgewicht und die Identität des Landes. Dies betonte der maronitische Patriarch von Antiochien, Kardinal Bechara Boutros Rai, bei einer Begegnung mit der Leitung der „Catholic Near East Welfare Association“ (CNEWA) in New York. Der Kardinal erinnerte daran, dass die meisten Flüchtlingen unter extrem schwierigen Lebensbedingungen leiden, daher könnten die jungen Leute unter ihnen zur Zielgruppe der islamistischen Terrororganisationen werden. Eine dauerhafte Lösung des Flüchtlingsproblems im Nahen Osten setze eine dauerhafte Friedenslösung voraus, damit die Flüchtlinge in ihre ursprünglichen Heimatorte zurückkehren können.
„Der israelisch-palästinensische Konflikt ist der Ursprung aller Probleme im Nahen Osten“
In seiner Analyse betonte der Patriarch laut Nachrichtenagentur „Fides“, dass auch der israelisch-palästinensische Konflikt – „der Ursprung aller Probleme im Nahen Osten“ – gelöst werden müsse. Eine Lösung kann sich Rai nur vorstellen, wenn es „zur Gründung eines palästinensischen Staates, einer Rückkehrmöglichkeit für palästinensische Flüchtlingen und einem Rückzug der israelischen Truppen aus den besetzten Gebieten kommt“. Die Trennung von Religion und Politik sei – sowohl im islamischen wie im jüdischen Bereich –„eine der Grundvoraussetzungen für eine dauerhafte politische Lösung in der Region“, so der maroni
tische Patriarch. Denn die Probleme würden genau dann beginnen, wenn man jene Bürger, die sich nicht zur Staatsreligion bekennen, „automatisch diskriminiert“.
Der „gelähmte“ kleine Staat
Kardinal Rai erinnerte daran, dass Christen und Muslime im Libanon eine „gemeinsame Identität“ geschaffen hätten, obwohl sie aus unterschiedlichen Traditionen kommen. Diese Identität basiere auf der Religionsfreiheit und dem Prinzip der „Einheit in der Verschiedenheit“. Der Libanon habe unzählige Flüchtlinge aufgenommen, aber für den durch eine institutionelle Krise „gelähmte“ kleine Staat (seit mehr als zwei Jahren gibt es keinen Präsidenten) werde es immer schwieriger, eine „Politik der Aufnahme“ umzusetzen und zugleich den Bedürfnissen der von Armut betroffenen Libanesen zu entsprechen.
Der Libanon muss die Auswirkungen der internationalen Interessenpolitik ausbaden
Der libanesische Caritas-Präsident P. Paul Karam betonte im Gespräch mit der katholischen Nachrichtenagentur „AsiaNews“, der kleine Libanon könne nicht „den Preis für die Politik der größeren Staaten“ zahlen, die sich damit begnügen, jeweils nur eine Handvoll Flüchtlinge aufzunehmen. Die Libanesen hätten seit jeher gegenüber Flüchtlingen eine große Aufnahmebereitschaft gezeigt, aber seit 2003 – dem Jahr des Einmarsches der US-geführten Allianz im Irak – müsse der Libanon die Auswirkungen der Interessenpolitik von Großmächten ausbaden. Getreu dem Auftrag von Papst Franziskus versuche der Libanon, den zur Flucht gezwungenen Menschen Gerechtigkeit und Würde zurückzugeben; die Caritas-Libanon tue ihr Möglichstes, aber es gebe einfach nicht genügend Ressourcen, um allen zu helfen.
Eine Zunahme extremistischer Aktivitäten auch in Europa unvermeidbar…“
Der Zustrom der Flüchtlinge, die mangelnde Überwachung der Grenzen, die wachsenden Schwierigkeiten bei der Kontrolle des Territoriums seien Ursache für die zunehmende Gewalttätigkeit auch im Libanon. Wenn der Flüchtlingszustrom nicht kontrolliert werde, dann sei eine Zunahme der extremistischen Aktivitäten unvermeidbar, wobei P. Karam hinzufügte: „Nicht nur hier bei uns im Libanon, sondern auch in Istanbul, in Paris, in Brüssel…“. Die meisten Flüchtlinge hätten keinen anderen Wunsch, als zu arbeiten und unter halbwegs menschenwürdigen Umständen zu leben. Aber wenn es an allem fehle – Nahrung, Arbeit, medizinische Versorgung, Schulbildung für die Kinder und Jugendlichen – sei die Gefahr der Radikalisierung groß. Und die Rechnung müsse die schuldlose libanesische Bevölkerung bezahlen.