Hintergrundbericht von Pia de Simony

Behnam Benoka, irakischer Priester und Vizerektor des chaldäisch-katholischen Seminars von Ankawa bei Erbil, hat im August einen aufrüttelnden Hilfeschrei („Brief der Tränen“) an Papst Franziskus gerichtet, der den verzweifelten Seelenzustand der einheimischen Christen zum Ausdruck bringt:

„Brief der Tränen“
„Heiligkeit, die Lage Deiner Schafe hier im Irak ist elend: sie sterben und hungern! Deine Kleinen haben Angst und können nicht mehr. Wir Priester und Ordensleute sind wenige, und fürchten, den körperlichen und seelischen Bedürfnissen deiner und unserer Kinder nicht genug entgegenkommen zu können. … Ich schreibe Ihnen mit meinen Tränen, weil wir in einem düsteren Tal sind, umgeben von einer Herde wild gewordener Wölfe. Heiligkeit, ich fürchte deine Kleinen zu verlieren, besonders die Neugeborenen, die jeden Tag schwächer werden… Ich habe Angst, dass der Tod bald einige von ihnen holt. Schick uns Deinen Segen, um die Kraft zu haben, voranzugehen und vielleicht noch länger auszuhalten.“  Ihr Behnam Benoka

Der Papst hat sich von diesem Schmerzensschrei erschüttert gezeigt und gleich nach Erhalt dieses Briefes in einem nordirakischen Flüchtlingscamp angerufen wo sich Pater Behnam um die vertriebenen Christen kümmert. Der Heilige Vater hat ihn ermutigt, die Notleidenden gerade in dieser schweren Zeit nicht im Stich zu lassen. Dann hat er über das Telefon allen Anwesenden Trost gespendet und sie seines seelischen Beistandes versichert.

IMG_0560_MMPatriarch Sako an CSI: „Wir leben derzeit in einer Horrorwelt…“
„Wir brauchen dringend den Besuch des Papstes im irakischen Krisengebiet, um als spiritueller Vater uns allen nahe zu sein!“ Das betonte auch jüngst wieder mit Nachdruck der chaldäische Patriarch Louis Raphael Sako von Bagdad: . „Durch das barbarische Wüten der islamischen Terrormiliz IS erleben wir im Irak seit den letzten Wochen eine Horrorwelt, die uns weit zurück ins finsterste Mittelalter zurückgeworfen hat. Das Leiden unendlich vieler Menschen (Christen, Jesiden aber auch gemäßigter Muslime, Anm.) hat inzwischen erschreckende Dimensionen erreicht: Abertausende von Familien, die früher in Würde in ihren Heimatdörfern in der Niniveh-Provinz gelebt und gearbeitet haben, stehen nun als Verjagte ohne ihr Hab und Gut vor dem Nichts, müssen um ihr Leben fürchten und haben panische Angst vor der Zukunft im eigenen Land“ so der Oberhirte der größten christlichen Gemeinde im Irak höchst alarmiert: „Ich wiederhole es noch einmal, eindringlich: ein echter Völkermord ist bei uns im Gange! Wenn die internationale Gemeinschaft dem IS nicht vehement und entschieden Einhalt gebietet, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dieser eine ernstzunehmende Gefahr für die ganze Welt sein wird.“

Christen werden lebend ans Kreuz geschlagenShababFlag.svg
Seit der islamischen Eroberung der Millionenstadt Mossul im Juni sind rund 120.000 Christen unter Todesdrohung über Nacht von ihren geschichtsträchtigen Heimatdörfern gnadenlos vertrieben und entwurzelt worden. UNO-Schätzungen zufolge sollen schon im Nordirak (Kurdistan)  bereits mehr als 400.000 traumatisierte Flüchtlinge Zuflucht gesucht haben, Tendenz täglich steigend.1
Die Terrororganisation hat inzwischen ein Kalifat ausgerufen, in dem sie das islamische Religionsgesetz, die Scharia, mit brutalsten Mitteln durchsetzt. Die IS-Kämpfer foltern Angehörige religiöser Minderheiten wie Christen und Jesiden, einige von ihnen wurden sogar lebend ans Kreuz geschlagen und fotografiert – die Bilder des Grauens dann triumphierend ins Internet gestellt. Viele Frauen und Mädchen wurden schwer misshandelt und müssen nun unter Todesgefahr als Sex-Sklavinnen dienen. Die jesidischen Männer trifft das härteste Los: Sie werden gleich rücksichtslos massakriert. In der Ortschaft Kasir Mihrab warten derzeit noch Hunderte gefangen gehaltene Jesiden-Familien, durch den IS an einen unbekannten Ort deportiert zu werden. Was ihnen Schlimmes bevorstehen kann, erahnt man spätestens seit der vor laufender Kamera jüngst stattgefundenen Enthauptung zweier US-Reporter und eines britischen Entwicklungshelfers, die weltweites Entsetzen hervorgerufen hat.

Ein Kriegsreporter in IS-Gefangenschaft: „Dort herrscht die Totalität des Bösen“
Warum hat man erst seit den IS-Horror-Videos die Schmerzensschreie der orientalischen Kirchenoberhäupter ernstgenommen? Diese Terrororganisation treibt schon seit mehr als zwei Jahren im Nachbarland Syrien ihr dämonisches Unwesen. „Syrien ist in die Fänge des Teufels geraten! Dort herrscht die Totalität des Bösen. Ich habe noch nie vorher und nirgendwo sonst ein so absolutes Fehlen von Barmherzigkeit, Mitleid und Respekt gegenüber dem leidenden Anderen gesehen wie im jetzigen Syrien“ stellte schon vor einem Jahr der erfahrene italienische Kriegsreporter Domenico Quirico unter Schock fest. Der Journalist hatte Glück im Unglück: gegen ein hohes Lösegeld wurde er nach einer fünfmonatigen IS-Gefangenschaft wieder freigelassen.

Patriarchen bei Obama

Die besorgten Patriarchen bei US-Präsident Obama (rechts im Bild)

Die besorgten Patriarchen bei US-Präsident Obama (rechts im Bild)

Inzwischen übertrifft die knallharte Todesmaschinerie der IS-Gotteskrieger alles bislang Gesehene. Nichtsdestotrotz lockt die Faszination des Bösen in Propagandavideos täglich mehr Kämpfer aus ganz Europa ins irakisch-syrische Kriegsgebiet. Die Zahl dieser Todesschwadronen hat stark zugenommen.2
Die internationale Gemeinschaft reagierte aber erst mit durchgreifendem Handeln als im August die Schockfotos der Hinrichtung des amerikanischen Journalisten Jim Foley in allen Medien veröffentlicht wurden. US-Präsident Obama kündigte daraufhin am 11. September sein 4-Punkte-Programm an, nachdem ihn auch kurz davor die wichtigsten Patriarchen der nahöstlichen Kirchen in Washington (s. Foto auf S. 3) von der ernsten Gefahr der immer größer werdenden IS-Miliz gewarnt hatten und der Auslöschung der einheimischen Christen. In seiner „Rede an die Nation“ legte Obama seine Strategie dar: Verstärkte Luftangriffe auf den IS in Irak – sowie künftig auch in Syrien, militärische Unterstützung für den Irak, eine konzertierte Aktion von Geheimdiensten, um die Finanzierung des IS zu kappen und rasche humanitäre Hilfe für die Vertriebenen.

Lichtblicke
Patriarch Sako gibt inzwischen schweren Herzens zu, dass die Regierung seines Landes noch zu fragil sei (s. Kasten unten) und der „Islamische Staat“ mittlerweile ein sehr starkes Gebilde, gut trainiert und reichlich mit Waffen versorgt. Letzterer sei auf dem besten Weg, um sein totalitäres System zu festigen. Daher könne man diese Terrormiliz nur noch mit Hilfe eines internationalen militärischen Eingreifens eindämmen. Kann das „Blutbad des Jahrhunderts“, von dem alle orientalischen Kirchenführer unisono sprechen, wirklich auf diese Weise gestoppt werden? Diese Mittel alleine genügen freilich nicht. Es gibt aber einige schwache Lichtblicke am Ende des langen Tunnels: Katar, mit Abstand das reichste sunnitische Land, hat sich auf massiven Druck der Weltöffentlichkeit schließlich bereit erklärt, die IS finanziell nicht mehr zu unterstützen. Sogar das streng sunnitisch-gläubige Saudi-Arabien hat – zum ersten Mal, wenn auch zögerlich – die Bremse gezogen, als ihre radikalen Glaubensgenossen kürzlich angekündigt hatten, sie wollten sogar die Kaaba (die heiligste Stätte des Islam, Anm.) in Mekka zerstören. Der dortige 21köpfige Gelehrtenrat – die höchste religiöse Instanz – hat nun in einer Fatwa 3den Kampf gegen die IS-Terrormiliz gutgeheißen, Terrorismus sei ein „abscheuliches Verbrechen“ und „im Auftrag des Satans“. Eine vorsichtige Wende – ausgerechnet in dem Land, das bislang Religionsschulen in aller Welt finanziert hat, von denen viele von Kritikern als Brutstätte des Extremismus gesehen werden? Vielleicht. Der Rat hat auch jüngst den Plänen der saudischen Regierung zugestimmt, die die USA im Kampf gegen die IS-Gotteskrieger unterstützen. Muslimische Verbände und Gelehrte verschiedener Länder  –  etwa in Ägypten,  Indonesien, USA, Großbritannien  – fangen inzwischen an, sich öffentlich vom IS-Terrorismus zu distanzieren. Höchste Zeit – auch im Interesse ihrer eigenen Glaubensbrüder!

1 1,7 mio Flüchtlinge leben derzeit insgesamt im Kurdistan (laut Erbils Bürgermeisters Nihad Lativ Qoja im Zib 2- Interview vom 21.8.14)
2  Die CIA schätzt den IS inzwischen bereits auf rund 30.000 Mann.  Bisher ist man von 10.000 Kämpfern ausgegangen.

3  verbindliches Rechtsgutachten