Terror in Wien: Eine Nachbetrachtung von Bischof Dr. Heinz Lederleitner
Wien, im Dezember 2020
Krieg ist der Terror der Reichen, Terror ist der Krieg der Armen. Vor einigen Jahren habe ich dies einmal so gelesen und es hat mich nachdenklich gemacht. In allen Fällen geht es um einen Konflikt zwischen jenen, die sich im Recht fühlen, etwas gewaltsam zu verteidigen oder zu erkämpfen, und den anderen, die sich den Frieden wünschen. Dass bei einem Terroranschlag unschuldige Menschen sterben und verletzt werden, erregt Abscheu und Abwehr. Zurecht. Doch: Fragen bleiben. Einige Überlegungen dazu, als Nachbetrachtung, die sicher ergänzungswürdig und kritisierbar bleibt. Das ist mir bewusst.
Der Terroranschlag vom 2. November in Wien war und bleibt ein Paukenschlag. Er führt uns vor Augen, wie verletzlich unsere Lebenswelt ist. Mehrere Themen wurden in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt:
Zunächst einmal der Brennpunkt Großstadt: Wien ist eine multikulturelle und multireligiöse Stadt geworden. Viele mögen das, manchen erscheint es als Bedrohung. Es macht unsicher, zu wissen, dass es andere Zugänge zur Wirklichkeit gibt als die eigenen von Eltern und Großeltern ererbten.
Damit sind wir schon beim zweiten Thema: Sicherheit. Sie scheint nach mittlerweile 75 Friedenjahren eine Selbstverständlichkeit. Dass Sicherheit nicht ausschließlich das Produkt professioneller Polizeiarbeit, sondern ein Zusammenspiel von mittlerweile weltweit vernetzten Einflussfaktoren ist, dass es also keine „Inseln der Seligen“ mehr gibt, kränkt die österreichische Seele. Die Versuchung, eine wenig professionelle Behördenarbeit allein verantwortlich zu machen, ist groß. Denn dann muss man sich ja keine weiteren Gedanken machen.
Drittens wird der Islam als Quelle von Fanatismus einmal mehr zum Gesprächsstoff. In einer Stadt wie Wien, in der das Narrativ der Türkenbelagerungen stärker nachwirkt als die Allianz des Osmanischen Reiches mit Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg, ist das von besonderer Bedeutung. Hingewiesen wird auf die kriegerische Geschichte des Islam, vergessen werden die gewalttätigen Gottesbilder des Alten Testamentes und die konfessionell motivierten Kriege in Europa wie etwa der Dreißigjährige Krieg. Angeblich sind wir heute aufgeklärt und tolerant. Bis auf „die Muslime“. Pauschal geraten sie – „die Anderen“ – unter Verdacht. Dies ist zurückzuweisen. Zurecht muss gesagt werden, dass es viele friedliebende Muslime gibt. Zugleich auch, dass bestimmte traditionelle Formen des muslimischen Lebens manchen Werten unseres Zusammenlebens wie z.B. Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter und einem selbstbestimmten Leben widersprechen. Ja, abzuweisen ist die Tendenz, solche traditionelle Formen muslimischen Lebens mehr und mehr in unsere Lebenskultur einzuführen und sie dadurch schleichend zur Pflicht für alle zu machen. Liberale Muslime weisen zurecht auf diese Gefahr hin. Und dann gibt es noch das, was als „Politischer Islam“ bezeichnet wird – besser wäre „Islamismus“ oder „zur Gewalt aufrufender Islam“. Dieser wird von den allermeisten Muslimen abgelehnt. Es ist nicht leicht, all diese Verschiedenheiten im Auge zu behalten. Ich gebe zu, dass jeder, der sich auf ein Gespräch mit Muslimen und über Muslime einlässt, ein schwieriges Gelände betritt. Allzu bald wird man als „bösartig muslimophob“ oder „naiv muslimophil“ abgestempelt. Denn in der Vielschichtigkeit, der Komplexität des Themas, liegt eine Problematik, die jeden, der Differenzierungen sieht, angreifbar macht von jenen, die ihre eigene Agenda in den Mittelpunkt stellen.
Dies führt uns zum vierten, wahrscheinlich schwierigsten Punkt: Es ist die Komplexität und Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft. Nach Jahrzehnten der Emanzipation von patriarchalen Lebensformen und tradierten Verhaltensmustern sind wir bei einem Ausmaß von Individualität angelangt, das ein hohes Maß gegenseitiger Akzeptanz und Gesprächskultur erfordert.
Bei manchen Menschen regt sich ein dumpfes Gefühl, nicht mitzukommen und nicht mitzuwollen mit Zuweisungen von schuldhaftem Verhalten wie Geschichtsvergessenheit, Rassismus, Sexismus und was es da sonst noch alles geben mag. Es mag ja sein, wie Intellektuelle meinen, dass die Krise, die Auseinandersetzung und die Arbeit an den Widersprüchen unabdingbar zu unserer Gesellschaft gehört, oft wird aber gerade das als Überforderung empfunden. Dann bleibt der Rückzug in zeitgeistige Formen von Heimat, in der Musik genauso wie im Politischen – ein Zurück Wollen in eine vorgeblich ruhigere und einfachere Vergangenheit. Da macht ein Terroranschlag einfach wütend und die Suche nach Sündenböcken geht los.
Ja, es hat nach dem Terroranschlag in Wien viele Beteuerungen gegeben, dass wir zusammengehören, eine Gemeinschaft sind, uns nicht auseinanderdividieren lassen wollen. Auch die Religionsgemeinschaften haben eindrucksvoll ihr Miteinander demonstriert. Junge Menschen aus gebildeten Schichten betonen ihre Verbundenheit über die Grenzen von Herkunft, Kultur und Religion. Doch, was ist mit jenen, die das Gefühl haben, eben „nicht dazu zu gehören“, anders zu sein? Bewusste Gegenmodelle zu einer offenen Gesellschaft werden derzeit für sie entworfen. Sie beziehen ihre Energie aus mythisch-religiösen und mythisch-nationalen Projektionen, sprechen an durch Phantasien von einer kraftvolleren und widerspruchsfreien Zukunft.
Der Terroranschlag in Wien am 2. November 2020 war und bleibt ein Paukenschlag. Welche Melodie darauf folgt, liegt an uns allen.
Quelle: Christen in Not