erzählt von Diana Mihaiescu, CSI-Bildungsreferentin

Nun ist es soweit: Mit Süßigkeiten, Spielen und Geschenken im Koffer lande ich nach einer 17-stündigen Flugreise aus Wien endlich in Enugu. Fast eine Stunde dauern die Formalitäten und die Gepäckausgabe am kleinen Flughafen. Zeit ist hier kein so wichtiger Faktor. Ein erster Eindruck, der sich im Laufe meines Aufenthaltes immer wieder bestätigen wird. Das hat auch seine angenehmen Seiten. In der Ankunftshalle kam mir ein lächelnder Nigerianer mit einem großen CSI-Schild in der Hand entgegen. Ab dem Moment fühlte ich mich gut  aufgehoben.

Mulmige Gedanken bei der Autofahrt nach Enugu
Während der Fahrt sehe ich öfter bewaffnetes Militär auf der Straße. Immer wieder werden wir von ihnen an Kreuzungen angehalten. Sie schauen wer im Auto sitzt und fragen nach unserem Zielort. Das gibt mir ein Sicherheitsgefühl, doch gleichzeitig führt es mich mit den Gedanken zu den Boko Haram-Terroristen. Auch sie halten Autos oder Busse an, entführen oder erschießen Christen, die sich weigern, zum Islam zu konvertieren.

Als wir Enugu erreichen, sind große Werbeplakate am Straßenrand nicht zu übersehen. Beworben werden christliche Feste und Bibelkurse. Die rund 800.000-Einwohnerstadt ist über 90% christlich. Das  Gefühl dafür bekommt man auch sofort vermittelt. Der Glaube umfasst an diesem Ende der Welt alle Lebensbereiche. Christsein ist hier ein wesentlicher Bestandteil der eigenen Identität. Alles dreht sich um den Glauben – die Bildung, das Wirtschaftsleben, auch die Gespräche. Sogar Autos und Fahrradrikschas sind übersät mit christlichen Botschaften.

„Bei uns laufen die Uhren ganz anders…“
Bald biegen wir ab und schon empfängt mich Monsignore  Obiora Ike, unser Projektleiter, mit ausgestreckten Armen und einem lauten „Noo!“ – so das Wort für „Willkommen!“ in seiner Landessprache Igbo. Ich bekomme sofort die Wertschätzung für CSI-Österreich und für die geleistete Unterstützung unserer Spender zu spüren. Wir betreten das große Waisenhausgelände. Am Bau einer großen, noch fensterlosen Halle arbeiten gerade fünf Männer. „Das wird unsere Schule“, erklärt der Prälat, „damit hier all unsere Kinder sowie jene aus der Nachbarschaft bald eine Grundausbildung erhalten. Zunächst bauen wir, dann beginnen wir gleich mit dem Unterricht.  Erst später kümmern wir uns um die entsprechenden Bewilligungen. Bei uns laufen die Uhren eben ganz anders als bei Euch in Europa“. Der dynamische Mann hat bereits viele Projekte in seinem krisengeschüttelten Land auf diese Weise erfolgreich in die Tat umgesetzt.

Erste Tuchfühlung mit den Kindern
Ein breiter Weg führt weiter zu den kleinen, neu errichteten Waisenhäusern, die mir schon von den Fotos her vertraut waren. Im mittleren Gebäude befindet sich der große Aufenthaltsraum. Hier spielen und essen die Kinder. Am Eingang werden wir von Schwestern herzlich begrüßt. Es sind insgesamt neun, die sich sowohl  um die sechsunddreißig kleinen Schützlinge als auch um Haus und Hof kümmern. Der Kirchenmann bringt mich zu den Kindern, die gerade beim Abendessen versammelt sind. Sie sitzen alle erstaunlich artig auf dem Boden, ganz auf ihre Fischsuppe konzentriert. „Wenn Sie ein Kind mit nach Europa nehmen wollen, dann am besten dieses hier“ meint eine der Schwestern augenzwinkernd zu mir und zeigt auf einen kleinen kahlköpfigen Albino-Afrikaner (s. Bild u.), dessen Hautfarbe genauso hell wie meine ist. Er lässt sich, sichtlich vergnügt, vom ältesten Buben des Hauses füttern, dem 8-jährigen Nathan. Das heikle Thema der in Afrika verfolgten Albinos wird nicht angesprochen. In vielen Teilen dieses Kontinents steckt in dubiosen Heilern der verbreitete Aberglaube, ihre Körperteile würden Glück bringen. Mehr dazu brauche ich an dieser Stelle wohl nicht zu erwähnen. Als Albinos und Christen werden sie gleich doppelt verfolgt…

Es wird viel gekichert und gelacht
Inzwischen füttern drei Schwestern in einer ruhigen Ecke auch Babys im Arm mit Milch und Brei. Immer mehr Blicke sind auf die neue Besucherin gerichtet. Allmählich kommen einige Kinder, die bisher etwas zurückhaltend waren, auf mich zu. Ich nehme kurz ein kleines Mädchen im Arm und spüre, wie sehr es sich an meiner Zuneigung erfreut. Trotz Not und Leid wird hier viel gekichert und gelacht. Man kümmert sich rührend um die ganze Schar und nimmt sich viel Zeit für sie. Im Nebenraum schlummern schon einige der zwanzig Babys in ihren Gitterbetten. Einige sind von unseren Schritten wach geworden und schauen mich neugierig an. Mein Gastgeber gibt mir ein Zeichen, den Raum auf Zehenspitzen zu verlassen, damit die Kleinen gleich wieder einschlafen können. Über einen Verbindungsgang erreichen wir das „Haus der Großen“. In ihrem Schlafraum liegen Spielzeuge herum, die Kinder zeigen mir stolz wer in welchem Bett schläft. Sie können sich mit mir in gebrochenem Englisch unterhalten, was für mich eine gewisse Erleichterung ist. Ein weiteres Zimmer wird als Spielraum und als Klassenzimmer verwendet. Mittlerweile werden wir von den Kindern regelrecht umzingelt. Ihr Lebensretter singt ihnen ein Lied vor über Jesus, wie er sie aus den Armen des Bösen gerettet und ein neues Zuhause gegeben hat. Eifrig summen die meisten mit, bevor auch sie von den Schwestern ins Bett gebracht werden.

Dankesfeier für die große Wohltäterin Maria Schreiber
An einem Haustor lächelt mich von einem dort angebrachten Foto eine ältere weiße Dame an: Ich erkenne sofort die österreichische Wohltäterin und CSI-Unterstützerin Maria Schreiber (im Bild oben), die ihre gesamte Erbschaft dem Waisenhaus vermacht hat. Ein starkes Zeichen der Hoffnung an diesem Ort, wo Neugeborene und kleine Kinder dem Terror der islamischen Boko Haram-Miliz um Haaresbreite entkommen sind und nun Geborgenheit finden. Seit der Überreichung der Spende veranstalten die Schwestern einmal im Jahr eine Dankesfeier, im Gedenken an die großherzige Dame aus dem fernen Europa.

Bemaltes Leintuch und „Sweets“ aus Österreich
In den nächsten Tagen verbringe ich viel Zeit mit den Kindern. Schwester Lucy – die Oberin – stellt mir alle Kinder einzeln vor und erzählt mir von ihren erschütternden Schicksalen. Von Eltern, die gewaltsam, zum Teil auch auf dem Fluchtweg in den sicheren Süden des Landes, umgebracht wurden. Einige Kinder konnten von Verwandten noch gerettet werden. Die Kleinen haben keine bewusste Erinnerung mehr an ihre Traumata. Über das Thema wird kaum gesprochen. Hier versucht man den Schützlingen viel Positives mit auf den Weg zu geben. Sie sollen lernen, einander zu helfen und alles brüderlich zu teilen. Das fällt mir in der Tat auf, als ich verschiedene „Sweets“ aus Wien – das englische Wort für Süßigkeiten, das sie alle kennen –  auf die fünfundzwanzig ausgestreckten Hände verteile. Ein paar Kinder machen mich darauf aufmerksam, dass einige ihrer Freunde von mir noch nicht  beschenkt wurden. Der Umgang miteinander ist fürsorglich – ein gewisser Zusammenhalt untereinander ist deutlich spürbar.

Begeistert schauen die Kinder auf das riesige gelbe Leintuch (s. Bild oben), das ich an einem anderen Tag auspacke. Es ist voller bemalter Zeichnungen und Mitteilungen von Viertklässlern aus der Volksschule Laaer-Berg aus Wien. Diese haben über die traurigen Geschichten der nigerianischen Kinder erfahren und sie mit liebevollen Äußerungen bedacht: „Wir lieben euch“, „Wir beten für euch“, „Ihr seid nicht alleine“, steht überall in bunten Lettern geschrieben. Eine Schwester bekommt Tränen in den Augen. „Haben das wirklich die Kinder für uns gemacht?“ fragt sie gerührt. Als Beweis zeige ich ihr die Bilder, wie die österreichischen Schulkinder gerade dabei waren, das Leintuch voll zu kritzeln. Alle empfinden es als ein besonderes Geschenk – demonstrativ wird es später an die Wand des Aufenthaltsraumes gehängt.

Der neue Brunnen wird bald eingeweiht
An einem weiteren Tag darf ich bei der wöchentlichen ärztlichen Untersuchung dabei sein. Diese findet in einem medizinischen Betreuungsbus statt. Ob Babys oder die Größeren: Jeder kam dran, wurde gewogen, Temperatur gemessen, Tabletten für die Kranken verordnet. Die Kinder haben davor keine Angst und machen gerne mit.

Inzwischen steigt die Hitze auf fast 40 Grad. Ideal, um den Kindern die bunten Zelte zu zeigen, die ich aus Wien mitgebracht habe. Neugierig schauen sie mir beim Aufbau zu. So etwas hatten sie noch nie gesehen. Sobald ich fertig bin, stürzen sich die Kleinen auf diese unbekannte, schattige Spielwiese. Sie strahlen vor Freude während sie im Zelt sitzen, sich durch den kleinen Tunnel zum anderen Zelt schlängeln oder einfach nur zuschauen. Dabei fällt mir auf, wie kreativ die Kleinen sind: Dauernd fallen ihnen neue Spielideen ein und sie regen die anderen auch gleich dazu an, mitzumachen.

Während wir draußen spielen, fällt mir bei der Hitze die Bedeutung unseres weiteren  Projektes auf: Sauberes Wasser ist sehr kostbar zu dieser trockenen Jahreszeit. Der Bau des neuen CSI-Brunnens ist deshalb umso notwendiger. Die alte Zysterne gibt es zwar noch auf dem Gelände, doch sie ist kaum mehr zu gebrauchen. Die Arbeiten an dem neuen Brunnen sind während meines Aufenthaltes voll im Gange (s. Bild S.3 oben re.). Als ich gerade Fotos vom Stahlgerüst aufnehme möchte, werde ich gleich wieder von Kindern umringt. „Snap me!“ schreien sie heiter und posieren unaufgefordert.

Lichter der Hoffnung in der stillen heiligen Nacht
Höhepunkt meines Aufenthaltes ist das Weihnachtfest im Waisenhaus.  Während der Messe  (s. Foto unten) singen alle fröhliche Lieder im Tanzrhythmus. Als ich das Lied „dashing through the snow“ höre, muss ich innerlich schmunzeln. Kein Mensch hier hat je Schnee gesehen, doch alle singen aus voller Kehle von Schlitten und Weihnachtsmann – am lautesten die ganz in Rot angezogenen Waisenkinder. Weihnachten ist eine Zeit des Gebens und des Schenkens, so die Kernbotschaft von Msgr. Ike bei seiner Predigt. Bei der Gabenbereitung bringen viele Besucher Geschenke und Spenden mit – ein Mann kommt sogar mit einer Ziege in die Kirche.

Der Abend geht mit Kerzen zur Neige – Lichter der Hoffnung in der stillen heiligen Nacht, soll es symbolisch ausdrücken. Doch ist die Nacht alles andere als still – die Geburt Jesu wird mit lautem Feuerwerk und überall mit großer Festlichkeit gefeiert. Schwester Okonkwo (s. Bild S.4) ruft vor dem Schlafengehen besonders die Spender in Erinnerung: „Gott hat uns durch CSI-Österreich viele Wohltäter geschickt. Ich kenne sie nicht und sie kennen uns leider auch nicht persönlich. Sie haben aber geholfen, viel Leid zu lindern und in die Zukunft zu schauen. Wir sind ihnen alle unendlich dankbar.“  Ihre Umarmung ist innig und herzlich. Schwer fällt mir die Trennung von den Kindern und Schwestern beim Abschied.